Nur bei Unverhältnismäßigkeit: EuGH konkretisiert Bedingungen zur Probezeitkündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer
Der besondere Schutz schwerbehinderter Arbeitnehmer sieht vor, dass diesen nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses nur noch mit behördlicher Zustimmung gekündigt werden kann. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) war nun mit der Frage betraut worden, ob und welcher Schutz für die ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses gilt.
Ein Arbeitgeber stellte einen neuen Facharbeiter ein. Kurz nachdem dieser seine neue Stelle angetreten hatte, wurden bei ihm so schwere Herzprobleme festgestellt, dass eine Beschäftigung auf dem ursprünglich für ihn vorgesehenen Arbeitsplatz unmöglich war. Der Arbeitgeber versetzte ihn deshalb noch innerhalb der Probezeit auf einen anderen Arbeitsplatz, wo er als Lagerist arbeitete. Allerdings erschien dem Arbeitgeber die Beschäftigung auf dem Ersatzarbeitsplatz offensichtlich auch zu unsicher. Er sprach deshalb rechtzeitig eine Probezeitkündigung aus und begründete diese damit, dass eine Weiterbeschäftigung auf dem geschuldeten Arbeitsplatz aufgrund der Behinderung unmöglich erscheine. Der Mitarbeiter wehrte sich gegen die Kündigung und klagte bis zum EuGH.
Der EuGH entschied, dass dem Arbeitnehmer zu Unrecht gekündigt worden war. Arbeitgeber müssen geeignete und im konkreten Fall erforderliche Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz käme nur in Betracht, wenn die Maßnahmen einen Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten würden. Der Arbeitgeber muss einen Arbeitsplatz deshalb so einrichten, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer seine Arbeit ausführen kann. Die Richter wiesen zudem darauf hin, dass ein Arbeitgeber verpflichtet werden könne, einen Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen, wenn dieser aufgrund einer entstandenen Schwerbehinderung seine ursprüngliche Tätigkeit langfristig nicht mehr ausüben könne.
Hinweis: Schwerbehinderte oder gleichgestellte Arbeitnehmer haben nach dieser Entscheidung des EuGH wesentlich bessere Karten, gegen eine Probezeitkündigung vorzugehen. Wie die Erfolgsaussichten im Einzelfall sind, kann ein Rechtsanwalt beurteilen. Arbeitgeber sollten sich in jedem Fall bei der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters zuvor beraten lassen.
Quelle: EuGH, Urt. v. 10.02.2022 - C-485/20
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 05/2022)